Lebenszeichen - Benedikt Welter:Der 20. Juli
„Schlussstrich is nich.“ Sie enden nicht: jene Tage, die Vergangenheit gegenwärtig machen. Wie der heutige 20. Juli. Zum achtzigsten Mal jährt er sich. Als Blockbuster mit Tom Cruise 2008 verfilmt, mit dem Titel „Operation Walküre“, wird er 2011 im ZDF von 4,6 Millionen angeschaut, davon 1,71 Millionen im Alter von 19-49. Doch Geschichte ist kein Hollywoodfilm. Und hinter dem 20. Juli stehen mehr Frauen und Männer als Graf Schenk von Stauffenberg. Diejenigen, die den anschließenden Rachefeldzug des NS-Regimes überleben und deren Angehörige haben es in der jungen Bundesrepublik West alles andere als leicht.
Bis zu offiziellen vom Staat getragenen Gedenkveranstaltungen war es noch ein langer Weg.
So wenig der „Schlussstrich“ greifen wird, so wenig griff „die Stunde Null“, die zu Beginn der Bundesrepublik ausgerufen wird.
So erinnert der heutige 20. Juli auch an die menschliche Schwerfälligkeit, sich den Realitäten zu stellen, selbst wenn sie zu dem gehören, was ich selbst erlebe und erlebt habe. Die Familien der Attentäter und aller, die im zivilen wie militärischen Widerstand das NS-Regime stürzen und durch ein demokratisches ersetzen wollten, standen in den ersten Jahrzehnten der Bonner Republik noch unter dem Ruch des Verrats.
Während die Witwe des berüchtigten Strafrichters des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, von der Bundesrepublik ihre nach den Richtergehalt berechnete Rente erhielt; diese sogar später aufgestockt wurde, mit der Begründung, dass ihr Mann, hätte er überlebt, eine hohe Position wahrnehmen würde, bekamen Witwen des Widerstands keinen Heller.
Später wird es opportuner, sich des 20. Juli positiv zu bedienen, um zu zeigen: es gab aber doch auch ein gutes Deutschland im Bösen. Der 20. Juli bedient ein außenpolitisches Ziel, ist aber kein Herzensanliegen der Bevölkerung.
Noch eine Entwicklung ganz anderer Art erlebt dieser Tag und die damit verbundene Widerstandsbewegung während der Jahre der Pandemie: Widerstand wird umgedeutet als geforderter Akt gegen diesen demokratischen Staat der wiedervereinten Bundesrepublik Deutschland. Auf Demonstrationen gegen die Coronaschutzmaßnahmen vergleicht sich eine Aktivistin mit Sophie Scholl – Kopf der Weißen Rose. Schlimmer geht immer.
Mir ist dieser 20. Juli ein wichtiges Datum inmitten der vielen bedeutenden Daten unserer Geschichte, weil er zeigt: ein Gewissen zu haben, ist keine Laune, und eine Gewissensentscheidung zu treffen, fordert die ganze Person ein – bis hin zur Einsamkeit.
Zugleich: ein Gewissen zu haben, hat Voraussetzungen. Werte, die das eigene Ego übersteigen und zu einer Orientierung nötigen, die meine kleine enge Sicht auf mein privates Wohl herausfordert. Ich erachte als größte Voraussetzung für eine Bildung des Gewissens die Herzensklugheit, die sich sorgt um das Wohlergehen des anderen und dabei nicht nur ein Du in den Blick nimmt, sondern auch die Vielen. Ich verwende den altbacken erscheinenden Begriff: Gemeinwohl.
Die Frauen und Männer des Widerstands haben nicht allein ihr persönliches Glück im Blick, wenn sie planen, wie ein Deutschland ohne nationalsozialistische Diktatur gestaltet werden kann. Und obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Hintergründen und Prägungen kommen: von sozialdemokratisch, kommunistisch, evangelisch oder katholisch, aus dem Adel, der Bürgerschaft, der Welt der Arbeiter: sie entwickeln Vorstellungen von Demokratie der Gewaltenteilung, vom Blick auf das Individuum und seinen unveräußerlichen Rechten aber auch Pflichten, um Verantwortung zu übernehmen – auch politische, auf ein Deutschland in Gemeinschaft mit den anderen Ländern Europas.
Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor, achtzig Jahre nach dem 20. Juli 1944. Es zeigt, was die Aufgaben heute sind. Ein Tag der Vergangenheit bleibt ein Tag für Gegenwart wie Zukunft.