Lebenszeichen - Matthias Marx:Die Zeichen der Zeit erkennen

Vor gut hundert Jahren wechselte ein Pastor von Alsweiler nach Eppelborn: Lorenz Vogt, Jahrgang 1880. Von Anfang an fiel auf, dass dieser Rheinländer, in Trechtlingshausen geboren, eine Menge Scharfsinn mit einer Menge sozialem Denken verband.
Jeder, der bei ihm bettelte, bekam etwas. So hat er wie selbstverständlich eigene Kleider und Schuhe verschenkt. Wenn seine Schwester, die mit im Pfarrhaus lebte, entsetzt feststellte: „Warum hast du ihm die neuen Schuhe gegeben – und nicht deine alten?“ kam die Antwort: „Alte hat er doch schon!“
Und sein Schäferhund Bessie spielte eine große Rolle in seinem Alltag. Das schlaue Tier konnte Türen öffnen, und mehr als einmal legte sich der Hund vor die letzten Stufen vor dem Hochaltar, wenn Pastor Vogt die Messe hielt.
Ein heute 88 Jahre alter Eppelborner erzählt eine schöne Geschichte über Pastor Vogt aus seinen Kindheitserinnerungen: er war zum Scherz, als Fünfjähriger zur Beichte geschickt worden, weil er ein paar kostbare Wiener Würstchen durchprobiert hatte… Bei der Beichte begegnete er dann einem freundlichen Menschen, der ihm zuhörte und ihn ernst nahm. Ein zwölfjähriges Mädchen ließ der Pastor regelmäßig in der lateinischen Messe die erläuternden deutschen Texte lesen. Obwohl es in der damaligen Zeit eher ungewöhnlich war, dass Mädchen eine Aufgabe im Gottesdienst haben durften.
Sehr schnell kam die Nazizeit – auch eine Zeit der Schikanen gegen die Kirche. Pastor Lorenz Vogt hatte klare Prinzipien und an Mut fehlte es ihm nicht. Als in seiner Pfarrei eine erste Nazi-Ortsgruppe gegründet werden sollte, sagte er in seiner Predigt: „Wer nach der Osterbeichte noch einmal nationalsozialistisch wählen will, braucht überhaupt nicht zu beichten, weil diese Osterbeichte dann ungültig ist.“ Er tat alles, um die Gründung dieser Ortsgruppe zu verhindern.
Mit dem Ortsgruppenleiter Blass unterhielt er höfliche Beziehungen, natürlich auf Abstand. Man wusste allerdings, dass dieser Herr Blass mehr als einmal Einwohner von Eppelborn vorher warnte, wenn die Gestapo nach ihnen suchte.
Der Alltag in der Diktatur war für einen geradezu offiziellen Gegner schwierig und gefährlich. In den Polizeiakten tauchte er immer wieder auf, der Gestapo war er ein Dorn im Auge. „Staatsfeindliches Verhalten“ war der ständige Vorwurf. Doch anscheinend hielt man auf verschiedenen Amtsebenen auch die Hand über ihn, besonders als es um das Verbot des Religionsunterrichts ging.
Alte Eppelborner erzählen von einem Tumult während der Frühmesse, als Spitzel gegen ihn im hinteren Teil der Kirche entdeckt wurden, und der Pastor selbst herunterkam, um das Durcheinander aufzulösen.
Die ungeheuren Belastungen durch den Nationalsozialismus und dann durch den Weltkrieg zerrütteten immer mehr seine Gesundheit: ständig Sterbeämter für die vielen Gefallenen. Anfang 1943 sagt er: „Ich sterbe mit meinen jungen Leuten“.
Am 3. Februar starb Pastor Vogt dennoch unerwartet, mit dreiundsechzig Jahren. Bei der Beerdigung fünf Tage später kamen die letzten Teilnehmer aus der Kirche, als die Prozession schon auf dem ziemlich weit entfernten Friedhof angelangt war.
Das alles ist jetzt mehr als achtzig Jahre her, aber ich glaube, heute geht es wieder um viele der Themen von damals: allem widerstehen, was Menschen ausgrenzt, was Menschen vereinnahmt und hörig macht. Glasklar die Zeichen der Zeit erkennen – und vor allem früh genug Witterung aufnehmen. Witterung für die Menschen und Mächte, die Rücksichtslosigkeit und Brutalität gut heißen oder selbst ausüben, die erst über alles hinweggehen, was sie stört, und dann am Ende auch über Leichen gehen.
Damals wie heute geht es darum, in ähnlicher Weise wie Pastor Vogt ganz genau hinzuschauen und der Wahrheit verpflichtet zu bleiben. Und das bedeutet immer: hellwach sein und helfen – wo immer es geht.