Lebenszeichen - Michael Kinnen:Ich hab dann mal Zeit

„Ich hab dann mal Zeit!“. Das wäre ein schöner Buchtitel. Vielleicht nicht ganz so erfolgreich wie der von Hape Kerkeling und seiner Jakobsweg-Geschichte. Aber ich glaube, das wäre ein Titel, der auch gut ankommt. Ich hab es selbst erlebt. Seit einiger Zeit hab ich meine Lebensplanung etwas umgestellt. Ich bin schon länger Pendler zwischen meinem Hauptwohnort und Berlin. Dann hab ich den alten Job dort gekündigt. Bin jetzt freiberuflich unterwegs. Mit viel Freiheit. Für mich kann ich sagen: „Ich hab dann mal Zeit!“ - für all das Schöne, das sonst im Arbeitsalltag unter die Räder kam. Ich hab dann mal Zeit - zum Beispiel für ein schönes Ehrenamt bei der Berliner Tafel, bei dem ich interessante Menschen kennenlerne, in andere Lebenswelten eintauche. Die Arbeit am Großmarkt ist für mich als Büromensch mal ganz was anderes. Die Mitarbeitenden dort: vom Langzeitarbeitslosen bis zum pensionierten Chefarzt; vom Ex-Drogenabhängigen bis zum Studierenden; von der Unternehmensberaterin bis zum Tafel-Gast, der selbst mit anpackt: Es ist egal, wo sie herkommen, welche Geschichte sie mitbringen. Alle sind per-Du, auf Augenhöhe. Wenn’s passt, bin ich da auch ein, zweimal die Woche und helfe mit - mit reichlich Muskelkater danach, aber dem guten Gefühl: Ich hab dann mal Zeit - unbezahlt und unbezahlbar. Ich fühl mich ein bisschen wie im Studentenleben damals. Passend zu Berlin: arm, aber sexy. Und doch fühl‘ ich mich wie in einem Luxusleben - genau deshalb nämlich. Denn: Ich hab dann mal Zeit!
Als journalistischer Freiberufler komm ich zudem zu spannenden Geschichten - nicht nur, aber gerade auch in dieser schillernden Stadt Berlin. Und ich genieße die beiden Standbeine in der Großstadt und im
Dorf, wo wir sonst wohnen. „Ich hab dann mal Zeit…für“ ist etwas ganz anderes als „Du hast ja gerade Zeit, dann kannst du ja mal schnell…“. Denn dann ist es schon wieder fremdbestimmt und unfrei. Ja, es ist ein Luxus, auch wenn ich nach äußeren Kriterien früher in der Festanstellung viel mehr verdient, viel sicherer beschäftigt, vermeintlich erfolgreicher und angesehener war, was ich da getan habe. Wenn ich Ex-Kolleginnen und Kollegen davon erzähle, staunen sie oft. Und dann kommt aber fast immer zu dem Satz „Ich könnte das nicht!“ auch ein kleiner, leiserer Satz: „Aber ausprobieren würde ich es schon gerne mal.“ - Ich hab dann mal Zeit. Und zwar Zeit für etwas. Nicht Zeit, um etwas zu erreichen. Unverzweckte Zeit ist das. - Klar, jede und jeder muss für sich selbst sehen, ob er sich diesen paradoxen Luxus mitten im Berufsleben leisten kann und will, mit viel weniger auszukommen als bisher. Am Ende ist das aber - denke ich - gar keine Frage des Geldes, sondern schlicht eine der Haltung: Was brauche ich wirklich zum Leben? Was macht mich glücklich? Wie fremdbestimmt von außen will ich sein, was Leistung, Anerkennung und Erwartung angeht? Was ist für mich ein „Leben in Fülle“ - und zwar ganz losgelöst von den gängigen Kriterien von Macht, Geld und Einfluss? Was ist wirklicher Luxus? Vielleicht wäre all das in so einem Buch gut untergebracht, das aber jede und jeder nur für sich selbst schreiben kann: „Ich hab dann mal Zeit!“ - Und das gilt nicht nur heute und in dieser Nacht, wenn die Uhren auf Sommerzeit umgestellt werden - und dann eine Stunde „fehlt“. Nein, das passt auch zur Fastenzeit, die jetzt mit dem Sonntag „Laetare“ morgen einen kleinen kirchlichen Höhepunkt findet auf dem Weg zu Ostern hin: Der Name „Laetare“ ist Latein und heißt: „sich freuen“ - trotz allem, was da so an Katastrophen rundherum passiert: Sich freuen! Es gibt immer noch Grund zur Hoffnung auf dem Weg des Lebens und auf dem Weg zum Leben. Dafür nehm‘ ich mir gerne Zeit. Lebens-Zeit. Zeit zum Leben.