Zwischenruf - Matthias Marx:Ordnung im Leben

Anne sollte endlich mal Ordnung lernen. Sie stammte aus dem Saarland und ihre Erziehung war nicht ganz gelungen. Mit achtzehn sollte sie deshalb endlich Ordnung lernen und kam aus diesem Grund nach Paris in ein Schwesternhaus. Die Eltern vertrauten darauf, dass dort Zucht und Ordnung ihre Wirkung zeigten; zudem war es ja nicht schädlich, französische Kultur aufzunehmen.
Es kam aber ganz anders, denn die für Anne verantwortliche Schwester war eine ganz besonders eigene Person. Ohne dass irgendjemand etwas ahnte, war diese Nonne jeden Tag heimlich in Paris unterwegs, auch abends spät, und sie nahm Anne einfach mit. Also in Ausstellungen, Jazzkeller, Kneipen… Ich stelle mir vor, wie sich die beiden im Paris der frühen fünfziger Jahre herumgetrieben haben – wahrscheinlich kannten sie jeden Jazz-Keller, alle möglichen Treffpunkte, eine Menge unbekannte und selbst unheimliche Ecken.
Am Ende des Jahres musste Anne zurück – und bei der Gelegenheit flog die Nonne auf, und wurde strafversetzt nach Lourdes. Damit war für beide, den Schützling wie die Erzieherin, die herrliche freie Zeit für immer zu Ende.
Zudem war das ganze schöne Erziehungsprojekt der Eltern nach hinten losgegangen.
Diese Geschichte habe ich nach Annes Tod vor wenigen Wochen gehört.
Es ist doch noch was aus ihr geworden, und zwar etwas Gutes. Und ich denke:
wer weiß, ob nicht wilde Zeiten in der Jugend genauso wichtig sind wie ganz ernsthafte Entwicklungen. Freiheit und Ordnung – schließt sich das wirklich ganz aus?
Das wilde Jahr in Paris hat sicher den Gesichtskreis erheblich erweitert und für immer Spuren hinterlassen. Zum Beispiel eine große Phantasie und bleibende Wissbegier. Das Abenteuerliche, das Gewagte ist genauso ein Baustein fürs Leben wie das Solide und mühsam Gelernte.
Übrigens ist Anne bis ins hohe Alter immer etwas unordentlich geblieben. Aber ihr ganzes Leben war schwer in Ordnung.